UP-Fachtagung 2023

Hürden und Lücken der Rechtsdurchsetzung von arbeitsunfähigen Personen

Der Ein- und Rückblick auf den 25. Mai 2023. Einen sehr spannenden Nachmittag auf den Punkt gebracht:

Das Recht

Das Sozialversicherungsrecht ist sehr komplex. Risiken und Leistungen überschneiden sich. Es hat ein Ausmass angenommen, dass Existenzängste nicht gelindert, sondern verstärkt werden. Ein rasches und einfaches Verfahren ist so wenig real wie eine Fallübersicht ohne Anwältin/Anwalt.

Das Gericht

Es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen der versicherten Person und der Versicherungsträgerin. Das kantonale Gericht sollte sich der eigenen Bedeutung bewusstwerden, die Untersuchungsmaxime ernst nehmen und auch einmal Mut beweisen, von der höchstrichterlichen Praxis abzuweichen.

Die Verwaltung

Den Sozialversicherungsanstalten kommen viele Aufgaben zu – die SVA Zürich sieht sich als Kompetenzzentrum für Sozialversicherungen im Kanton Zürich. Es sind die Änderungen der Bedürfnisse (z.B. Anstieg der psychischen Erkrankungen von Jugendlichen und Kindern) wie auch der politischen Anforderungen an die Sozialversicherungen (z.B. Eingliederung statt Rente), welche die SVA unter einen Hut bringen muss. Idealerweise wird durch die Mitarbeitenden ein Grundvertrauen in die versicherte Person vermittelt und geschaffen, eine konstante Offenheit beibehalten, das Gespräch gesucht und die Erwartungen geklärt.

Die Versicherten-Organisationen

Versicherte Personen prägt die Angst in vieler Hinsicht: Vor einer IV-Anmeldung (beispielsweise), vor einer gesundheitlichen Verschlechterung und/oder der Unvorhersehbarkeit Ihrer (finanziellen) Existenz. Im Verfahren selbst, bestehen weitere zahlreiche Hürden:

  • Zusammenarbeit mit den Klienten (Informationsdefizit, Komplexität, Motivation, Sprache)
  • ungenügende Ressourcen (Zeit für Recherche, medizinisches Fachwissen, Geld für Gutachten, u.v.a.)
  • fehlende „Waffengleichheit“ (Fristen, Beweiskraft/-losigkeit, Kognitionsbeschränkungen)
  • lange Verfahrensdauer (aufgrund von Auflagen zu Therapien und Eingliederungsversuchen, Flaschenhals Medizin) und Nicht-Entscheide (Abwarten auf Therapie-Ergebnisse, Rückweisungen der Gerichte).
  • Rechtskraft und Wiederanmeldung: Keine Chancen auf Wiedererwägung seitens Versicherten, hohe Hürden bei der Wiederanmeldung, zudem sind viele Erkrankungen statisch (erster IV-Entscheid negativ, kaum Chancen auf Korrektur!)
  • IV-Gutachten und strukturiertes Beweisverfahren (einseitige Qualitätsprüfung bei Arbeitsunfähigkeit, kaum bei Arbeitsfähigkeit; BehandlerInnen als Partei, zu stark Diagnose und einseitig auf Ressourcen fokussiert. Keine reale Eingliederung möglich.

Konkret wird vorgeschlagen, dass die IV neutraler sein müsste und keine Vorgaben des BSV bezüglich Anzahl Renten z.B. vorgeschrieben bekommen darf. Renten, insbesondere Teilrenten, sollten viel schneller gesprochen werden und erst nach nachhaltig erfolgter Eingliederung überprüft werden. ÄrztInnen, Erfahrungen aus der Arbeitswelt und Eingliederungsfachpersonen sollen effektiv einbezogen werden und die Gerichtsverfahren bei Eingliederungen und Auflagen rascher erfolgen.

Die Nicht-Versicherten

Menschen, die keinen gesetzlichen Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen haben, fallen durch alle Netze und landen in der Fürsorge. Von den Fürsorgeempfangenden verfügen die Hälfte lediglich einen obligatorischen Schulabschluss, leiden oft unter psychischem Stress und sind somit gesundheitlich eingeschränkt. Dies hat Folgen für die Rechtsdurchsetzung: Unverständnis der Sprache in Verfügungen, fehlende Kenntnisse in Bezug auf Rechtssystem und Unterstützungsangeboten. Die Fristenwahrung, die fehlende Energie und die fehlenden Finanzen, können dazu führen, dass sich Menschen nicht (rechtzeitig) wehren.

Sozialdienste zahlen selten Anwaltshonorare, verfügen nicht immer über das notwendige Fachwissen im Sozialversicherungsrecht und der Ablösungsprozess nach Rentenzusprache ist oft holprig (Verrechnung, Rückerstattung).

Die Tagung hat einerseits gezeigt, dass trotz der gesetzlich und verfassungsmässig eingeräumten Rechte von Versicherten zur Rechtsdurchsetzung immer noch erhebliche Hürden bestehen und es diesbezüglich noch einiges zu tun gibt. Zuversichtlich stimmte, dass sich alle involvierten Stellen und Institutionen der Problematik grundsätzlich bewusst sind und sich auch bemühen, diesbezüglich Verbesserungen zu erlangen/erreichen. Dialoge wie derjenige an der Tagung sind wichtig, um dem Ziel der Verbesserungen etwas näher zu kommen, wenngleich hier nie sämtliche Hürden beseitigt werden können.

Der UP ist es sicher gelungen, einen Beitrag an den Dialog und den Austausch leisten zu können. Wir sind alle gespannt, wie die Sache weitergeht und werden mit unserer täglichen Arbeit sowohl in der Beratungsstelle als auch in den Anwaltskanzleien dieses Thema weiterverfolgen.

Kaspar Gehring, Daniela Richner
August 2023